Türkisfarbener Hintergrund mit verschiedenen Sprechblasen ohne Inhalt.

Vom Dauerbrenner zum Diskurs

Migration, Schulden, Krieg und Frieden: Einzelne Themen setzen sich im öffentlichen Diskurs fest – politisch, gesellschaftlich und medial. Warum ist so ist und was bedeutet diese Entwicklung für Medienschaffende? Wir haben mit Justus von Daniels (Chefredakteur CORRECTIV) darüber gesprochen.

Spiel der Aufmerksamkeiten

Aktuelle mediale Themen als Aufhänger, um die eigenen relevanten Inhalte in den öffentlichen Diskurs einzubringen - die Kommunikation im Bundestagswahlkampf 2025 hat selbst fachliche Grundlagen für Unternehmen- und Organisationskommunikation aus den Angeln gehoben. 

Das Thema Migration wurde, befeuert durch die Medien selbst, zum Dauerbrenner, während die großen Problemfelder Wirtschaft, Sicherheit, soziale Gerechtigkeit kaum durchdringen konnten. Für das strategische Themenmanagement braucht es also weitere Aspekte, die in der Kommunikationsplanung berücksichtigt werden müssen. Doch worauf kommt es im „Spiel der Aufmerksamkeiten“ an?

Der Social Media Watchblog hat im Februar 2025 ein Manifest herausgebracht, um die Dauer-Empörung in den sozialen Netzwerken zu unterbrechen. Macht das Sinn?

„Themen, die medial gerade laufen, kann man nicht ignorieren“, sagt Justus von Daniels. „Andere Themen oder Perspektiven in den Vordergrund zu rücken, führt unter Umständen aber zum gegenteiligen Effekt: Es entsteht keine Resonanz, wenn niemand dazu spricht. Die Frage ist also, wie man damit umgeht?“

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Justus von Daniels

Chefredakteur CORRECTIV

Neben investigativen Recherchen, die er koordiniert, entwickelt Justus von Daniels die Idee der Bürgerrecherche weiter. Für seine Arbeit hat er unter anderem folgende Auszeichnungen erhalten: Grimme Online Award (2019), Chefredaktion des Jahres (2021), „Journalisten des Jahres" (2024).

Medienkuratierte Aufmerksamkeit: Andere Fragen stellen!

Reproduzieren und kommentieren: Wenn Medien in einer thematischen Diskussion in die Rolle des Verstärkers der gleichen Dimensionsebene kommen und dazu vornehmlich Meinungsstücke produzieren, entsteht eine Spirale – sozusagen medienkuratierte Aufmerksamkeit.

„Wir haben uns bei CORRECTIV gefragt, wie wir damit umgehen wollen. Wir suchen nach den Themen, die oft hinter den aufgeregten Debatten liegen und stellen andere Fragen“, so Justus von Daniels. „Wir wollen zum Beispiel wissen, warum das Thema Migration so viele Menschen beschäftigt und wie das mit sozialen Fragen zusammenhängt.“ 

Dafür befragt die Redaktion regelmäßig die User:innen, beispielsweise im täglichen Newsletter. Herausgekommen sind ganz persönliche Aspekte, die die Menschen beschäftigen. Häufig geht es um Teilhabe an den öffentlichen Gütern wie zum Beispiel Kitaplätze oder die Schulversorgung. Diese Themen bearbeitet CORRECTIV und kann dem Thema im medialen Diskurs eine Facette hinzufügen.

Beispiel: Bildung

Eine Übersicht aller Standpunkte und Biographien hat die Redaktion im Artikel Kitas und Schulen: Was die wichtigsten Bildungspolitiker*innen bewegen wollen zusammengestellt. Auf der Themenseite Bildung fließen alle Beiträge zusammen und geben ein differenziertes Bild. CORRECTIV berichtet über strukturelle Ursachen und möchte den Dialog über einen positiven Wandel fördern. “Unser Ziel: Komplexe Zusammenhänge erklären, politische Verantwortung benennen – und eine informierte Debatte über bessere Bildung ermöglichen.”

Thema „Krieg und Frieden“ beherrscht alles

Im Jahresverlauf 2025 spielt das Thema Migration medial, politisch und gesellschaftlich eine deutlich geringere Rolle. Es wurde nach der Bundestagswahl vom Thema Staatsverschuldung abgelöst, das rückblickend die Vorstufe eines Blickwechsels auf ein anderes übergeordnetes Thema war. Das Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Infrastruktur und Klimaschutz sowie nahezu unbegrenzte Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit sind historisch.

„Aktuell beherrscht „Krieg und Frieden“ den medialen Raum. Es geht darum, zu beschreiben, wie die Welt aus den Fugen gerät und wie eine Gesellschaft mit dieser Dynamik umgehen kann. Das überlagert gerade fast alles.“

Justus von Daniels
Chefredakteur

Die USA, der Nahe Osten, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine: Der Blick der Öffentlichkeit ging vom Inland zum Ausland, von einem vorhersehbaren globalen Gefüge in eine Phase der Unsicherheit.

5 strategische Gedanken zur Themenplanung

Es ist also dringend an der Zeit, andere Wege auszuprobieren, am Spiel der medialen Aufmerksamkeiten teilzunehmen. Justus von Daniels teilt fünf strategische Gedanken, die Kommunikationsfachkräften für ihre Themenplanung helfen können:

  • Diskurs statt Dauerbrenner: Folgt meine Arbeit der aktuellen Aufmerksamkeit oder leistet er einen substantiellen neuen Beitrag zum thematischen Diskurs?
  • Zurück zum Ursprung: Woher kommen die Thesen zu einem Thema? Den Ursprung und die Debatte zu verfolgen ist für Medienschaffende relevant. Nur so können sie kurzlebige News einordnen, Verschiebungen erkennen und Informationen kuratieren. Und sie erkennen Argumentationsmuster, die gezielt negativ in eine Gesellschaft hineinwirken sollen.
  • Fakten sammeln: Durch KI entsteht in rasantem Tempo eine unglaublich große Menge an Halbwissen. Medienschaffende brauchen unkontroverse Fakten und verlässliche Quellen für ihre Arbeit. Damit können sie Desinformation begegnen – eine der größten Gefahren für die Demokratie.
  • Logik der Plattformen: Zwischen dem Medium und dem User stehen die großen digitalen Plattformen. Es gilt, ein Verständnis für ihre Absichten, Logik und Bots zu entwickeln.
  • Sich begegnen und zuhören: Der direkte Kontakt zu den Menschen ist ein hoher Wert. Hier können mediale Debatten konkret diskutiert werden. Verstärkt sich das System selbst oder hat das Thema tatsächlich Relevanz?

Beispiel: Dialogformate

Räume öffnen, Dialog ermöglichen: Auf dem Gebiet der Nordkirche gibt es spannende Dialogformate, an der jede:r teilnehmen kann. 

  • Im Juli haben zum ersten Mal die Überkreuz-Gespräche stattgefunden. Online, telefonisch oder persönlich: Es ist wichtig, Menschen mit einer anderen Meinung zu begegnen und sich gegenseitig zuzuhören. Für die Gespräche wurden genau diese Menschen einander zulost und zum Austausch eingeladen.
  • In der Online-Gesprächsreihe „Das gute Leben“ der evangelischen Erwachsenenbildung im Kirchenkreis Schleswig-Flensburg geht es darum, mit Andersdenkenden ins Gespräch zu kommen. Das Programm 2025 hat noch drei Online-Veranstaltungen mit ganz verschiedenen thematischen Aspekten.
  • Die Kultur.Feldstein.Kirche in Recknitz bietet von Mai bis Oktober Raum für Kultur & Dialog: Zwischen den alten Mauern unter dem weiten Himmel, können Menschen zusammenkommen. Sie können Kultur, Glaube und Ansichten miteinander teilen und dabei auch scheinbar Altbewährtes im Miteinander in Frage stellen. 

Mit der Initiative #VerständigungsOrte schaffen Kirche und Diakonie bundesweit Raum für ehrlichen Dialog. #VerständigungsOrte sind Orte zum Reden und Zuhören, entspannen verhärtete Fronten, weiten den Blick und lassen auch mal in die Schuhe der anderen schlüpfen. 

Chancen für den gesellschaftlichen Diskurs

Sich begegnen und zuhören. Hier liegen Chancen für Medienschaffende. „Es gibt so viele technische Möglichkeiten, um sehr viel interaktiver miteinander in Kommunikation zu treten. Der Leserbrief hat eine Einzelmeinung gezeigt. Heute kann man eine Umfrage starten und sofort 100 oder vielleicht auch 1000 Leute beteiligen,“ sagt Justus von Daniels. Dadurch könne eine Redaktion ein Gespür entwickeln, ob der Ansatz richtig war oder den Menschen vielleicht ein anderer Aspekt wichtig ist. 

An diesem Punkt sieht Justus von Daniels die gesamte Gesellschaft: Die wirklich spannenden Themen aus den verschiedenen Communities können gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. „Das ist, glaube ich, ein Weg, um genau diese Spirale der klassischen News-Müdigkeit zu unterbrechen“, so Justus von Daniels.

Hoffnung im Blick

Dass Texte offenbar Wirkung haben können, die dazu führt, dass sich Menschen engagieren - das macht Justus von Daniels Hoffnung. In unserer Interview-Reihe Hoffnung im Blick sind 2025 Medienschaffende eingeladen, ihren Blick auf Hoffnung zu teilen. Mit der Reihe wollen wir inspirieren, über Hoffnung nachzudenken. 
Denn wer hofft, hat eine positive Grundeinstellung und glaubt daran, dass etwas gut werden kann. Das kann als naiv verstanden werden, ist aber alles andere: Wer mit Zuversicht in die Zukunft blickt, kann daraus Kraft ziehen und Mut schöpfen. Hoffnung kann keine Gewissheit geben, aber ein Funke sein. Wir verstehen Hoffnung als einen positiven Möglichkeitsraum und möchten von möglichst verschiedenen Menschen die mit Medien arbeiten wissen, wie sie diesen Raum bauen und begreifen.  

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