Vom Dauerbrenner zum Diskurs
Migration, Schulden, Krieg und Frieden: Einzelne Themen setzen sich im öffentlichen Diskurs fest – politisch, gesellschaftlich und medial. Warum ist so ist und was bedeutet diese Entwicklung für ...
Beitrag lesenMigration, Schulden, Krieg und Frieden: Einzelne Themen setzen sich im öffentlichen Diskurs fest – politisch, gesellschaftlich und medial. Warum ist so ist und was bedeutet diese Entwicklung für Medienschaffende? Wir haben mit Justus von Daniels (Chefredakteur CORRECTIV) darüber gesprochen.
Aktuelle mediale Themen als Aufhänger, um die eigenen relevanten Inhalte in den öffentlichen Diskurs einzubringen - die Kommunikation im Bundestagswahlkampf 2025 hat selbst fachliche Grundlagen für Unternehmen- und Organisationskommunikation aus den Angeln gehoben.
Das Thema Migration wurde, befeuert durch die Medien selbst, zum Dauerbrenner, während die großen Problemfelder Wirtschaft, Sicherheit, soziale Gerechtigkeit kaum durchdringen konnten. Für das strategische Themenmanagement braucht es also weitere Aspekte, die in der Kommunikationsplanung berücksichtigt werden müssen. Doch worauf kommt es im „Spiel der Aufmerksamkeiten“ an?
Der Social Media Watchblog hat im Februar 2025 ein Manifest herausgebracht, um die Dauer-Empörung in den sozialen Netzwerken zu unterbrechen. Macht das Sinn?
„Themen, die medial gerade laufen, kann man nicht ignorieren“, sagt Justus von Daniels. „Andere Themen oder Perspektiven in den Vordergrund zu rücken, führt unter Umständen aber zum gegenteiligen Effekt: Es entsteht keine Resonanz, wenn niemand dazu spricht. Die Frage ist also, wie man damit umgeht?“
Reproduzieren und kommentieren: Wenn Medien in einer thematischen Diskussion in die Rolle des Verstärkers der gleichen Dimensionsebene kommen und dazu vornehmlich Meinungsstücke produzieren, entsteht eine Spirale – sozusagen medienkuratierte Aufmerksamkeit.
„Wir haben uns bei CORRECTIV gefragt, wie wir damit umgehen wollen. Wir suchen nach den Themen, die oft hinter den aufgeregten Debatten liegen und stellen andere Fragen“, so Justus von Daniels. „Wir wollen zum Beispiel wissen, warum das Thema Migration so viele Menschen beschäftigt und wie das mit sozialen Fragen zusammenhängt.“
Dafür befragt die Redaktion regelmäßig die User:innen, beispielsweise im täglichen Newsletter. Herausgekommen sind ganz persönliche Aspekte, die die Menschen beschäftigen. Häufig geht es um Teilhabe an den öffentlichen Gütern wie zum Beispiel Kitaplätze oder die Schulversorgung. Diese Themen bearbeitet CORRECTIV und kann dem Thema im medialen Diskurs eine Facette hinzufügen.
Eine Übersicht aller Standpunkte und Biographien hat die Redaktion im Artikel Kitas und Schulen: Was die wichtigsten Bildungspolitiker*innen bewegen wollen zusammengestellt. Auf der Themenseite Bildung fließen alle Beiträge zusammen und geben ein differenziertes Bild. CORRECTIV berichtet über strukturelle Ursachen und möchte den Dialog über einen positiven Wandel fördern. “Unser Ziel: Komplexe Zusammenhänge erklären, politische Verantwortung benennen – und eine informierte Debatte über bessere Bildung ermöglichen.”
Im Jahresverlauf 2025 spielt das Thema Migration medial, politisch und gesellschaftlich eine deutlich geringere Rolle. Es wurde nach der Bundestagswahl vom Thema Staatsverschuldung abgelöst, das rückblickend die Vorstufe eines Blickwechsels auf ein anderes übergeordnetes Thema war. Das Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für Infrastruktur und Klimaschutz sowie nahezu unbegrenzte Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit sind historisch.
Die USA, der Nahe Osten, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine: Der Blick der Öffentlichkeit ging vom Inland zum Ausland, von einem vorhersehbaren globalen Gefüge in eine Phase der Unsicherheit.
Es ist also dringend an der Zeit, andere Wege auszuprobieren, am Spiel der medialen Aufmerksamkeiten teilzunehmen. Justus von Daniels teilt fünf strategische Gedanken, die Kommunikationsfachkräften für ihre Themenplanung helfen können:
Räume öffnen, Dialog ermöglichen: Auf dem Gebiet der Nordkirche gibt es spannende Dialogformate, an der jede:r teilnehmen kann.
Mit der Initiative #VerständigungsOrte schaffen Kirche und Diakonie bundesweit Raum für ehrlichen Dialog. #VerständigungsOrte sind Orte zum Reden und Zuhören, entspannen verhärtete Fronten, weiten den Blick und lassen auch mal in die Schuhe der anderen schlüpfen.
Sich begegnen und zuhören. Hier liegen Chancen für Medienschaffende. „Es gibt so viele technische Möglichkeiten, um sehr viel interaktiver miteinander in Kommunikation zu treten. Der Leserbrief hat eine Einzelmeinung gezeigt. Heute kann man eine Umfrage starten und sofort 100 oder vielleicht auch 1000 Leute beteiligen,“ sagt Justus von Daniels. Dadurch könne eine Redaktion ein Gespür entwickeln, ob der Ansatz richtig war oder den Menschen vielleicht ein anderer Aspekt wichtig ist.
An diesem Punkt sieht Justus von Daniels die gesamte Gesellschaft: Die wirklich spannenden Themen aus den verschiedenen Communities können gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. „Das ist, glaube ich, ein Weg, um genau diese Spirale der klassischen News-Müdigkeit zu unterbrechen“, so Justus von Daniels.
Dass Texte offenbar Wirkung haben können, die dazu führt, dass sich Menschen engagieren - das macht Justus von Daniels Hoffnung. In unserer Interview-Reihe Hoffnung im Blick sind 2025 Medienschaffende eingeladen, ihren Blick auf Hoffnung zu teilen. Mit der Reihe wollen wir inspirieren, über Hoffnung nachzudenken.
Denn wer hofft, hat eine positive Grundeinstellung und glaubt daran, dass etwas gut werden kann. Das kann als naiv verstanden werden, ist aber alles andere: Wer mit Zuversicht in die Zukunft blickt, kann daraus Kraft ziehen und Mut schöpfen. Hoffnung kann keine Gewissheit geben, aber ein Funke sein. Wir verstehen Hoffnung als einen positiven Möglichkeitsraum und möchten von möglichst verschiedenen Menschen die mit Medien arbeiten wissen, wie sie diesen Raum bauen und begreifen.