Warum verfangen einfach Antworten auf komplexe Fragen? Polarisieren die Medien und Plattformen durch ihre markigen Schlagzeiten, kurzen Sätze und Algorithmen die Gesellschaft? Im Interview erklärt der Kultur- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Jörg Metelmann, was Redaktionen über die Rolle von digitalen Medien im aktuellen politischen Diskurs wissen müssen und welche Aufgabe kirchliche Kommunikation haben könnte.
Demokratie unter Druck. Affekte, Konflikte und die Faszination des Autoritären
Claudia Ebeling hat am Rande der Tagung „Demokratie unter Druck. Affekte, Konflikte und die Faszination des Autoritären“ mit Prof. Dr. Jörg Metelmann gesprochen. Das Institut für Praktische Theologie an der Universität Hamburg hatte Im September 2025 Wissenschaftler:innen aus den Forschungsbereichen Politik, Soziologie, Theologie und Medien eingeladen, sich der Frage zu nähern, warum autoritäre Politik weltweit Zuspruch erhält und was das für das demokratische Zusammenleben bedeutet. "Was macht Autoritarismus attraktiv? Über Affektpolitiken in der digitalen Mediengesellschaft" war die Überschrift des Vortrags von Prof. Dr. Jörg Metelmann. Im Interview auf dem Wissensblog erläutert der Kultur- und Medienwissenschaftler, was Redaktionen über die Rolle von digitalen Medien im aktuellen politischen Diskurs wissen müssen und welche Aufgabe kirchliche Kommunikation haben könnte.
Jörg Metelmann arbeitet seit 2007 an der Universität St. Gallen (Schweiz), wo er 2014 habilitiert und 2015 zum Ständigen Dozenten und Titularprofessor ernannt wurde. Seine Schwerpunkte sind: Imagineering/Transformatik/Gesellschaftswandel,
Kulturen des Imaginären/Geschichte der Utopie, Affektkartographie der Moderne,
Visuelle Kulturstudien.
Polarisieren Medien und Plattformen die Gesellschaft?
Klarheit, Sicherheit, Orientierung: Das wünschen wir uns alle. Gerade in so herausfordernden Zeiten wie diesen, in denen sich die Welt um uns herum ständig verändert und wir immer weniger selber steuern können: Ob Kriege, Klimakrise, Launen mächtiger Politiker oder die Weltwirtschaft. Wir alle erleben den Verlust von Kontrolle über viele Bereiche unseres Lebens, denn in unserer globalisierten Welt hängt alles mit allem zusammen.
Umso mehr scheinen einfache Antworten auf komplexe Probleme zu verfangen. Schwarz und weiß, Freund und Feind, wir gegen die anderen – das schafft Klarheit anstelle von mühsamen Kompromissen oder vielschichtigen Lösungen. So wird auch auf der emotionalen Ebene der Wunsch nach Orientierung, nach Zugehörigkeit und Stärke bedient. Gerade Politiker:innen an den Rändern des politischen Spektrums nutzen diese Logiken.
Und die Medien? Welche Rolle spielen sie? Häufig heißt es, erst die digitalen Räume mit ihren Filterblasen, ihren Feeds, die von markigen Schlagzeilen und einfachen Sätzen leben, und ihren Algorithmen hätten die Gesellschaft polarisiert. Doch hier sagt der Kultur- und Medienwissenschaftler Prof. Jörg Metelmann von der Universität St. Gallen:
„Medien sind Verstärker, aber keine Ursache.“
Prof. Dr. Jörg Metelmann
Professor für Kultur- und Medienwissenschaften
Welche Bedürfnisse bedienen digitalen Räume für Nutzer:innen?
Vor allem rechtspopulistische und rechtsextreme Social Media-Accounts haben eine hohe Reichweite und sprechen offenbar mit ihren demokratiefeindlichen, ausgrenzenden und herabwürdigenden Inhalten viele Menschen an. Welche Bedürfnisse bedienen diese digitalen Räume für ihre Nutzer:innen?
Prof. Dr. Jörg Metelmann: Das sind zum einen ganz grundlegende Bedürfnisse, die jede und jeder von uns hat: Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Wir und die anderen, nach dieser Logik funktionieren viele Accounts. Jede:r wünscht sich, Teil einer Gruppe zu sein. Das ist ein menschliches Bedürfnis. Problematisch für unser demokratisches Zusammenleben wird es, wenn «die anderen» abgewertet und ausgegrenzt werden.
Außerdem kreiert sich ein Mensch mit einem Social Media-Profil eine eigene Persönlichkeit und eine eigene Welt. Kommentare, Vernetzung, Foren und Likes sind eine Möglichkeit der Gestaltung der eigenen Welt, die Reaktionen und Interaktionen bestärken das Gefühl, gestalten zu können. So entsteht Selbstwirksamkeit in einer Welt, in der jede:r Einzelne immer weniger kontrollieren und steuern kann.
Welche Mechanismen nutzen gerade rechte Plattformen und warum sind sie so erfolgreich damit?
Nach dem Blick in einige Studien von Kolleg:innen würde ich mit dem Hamburger Experten Jan Rau sagen: Medien sind Verstärker, aber keine Ursache von Rechtsruck, autoritärer Neigung und Extremismus. Aber im Ringen um Klicks sind Polarisierung und Emotionalisierung die Strategien, die rechte Plattformen besonders erfolgreich bedienen.
Natürlich formen Medien – und das schon immer! – unsere Wahrnehmung und konstruieren so eine bestimmte Weltsicht mit. Im Falle der Social-Media-Plattformen ist dies der Modus des Kampfes um Aufmerksamkeit
An TikTok ist vor allem interessant, dass die Nutzer:innen selbst aktiv werden können, also Posts bearbeiten, umwandeln und weiterschicken können. Im Hinblick auf rechte Mobilisierung wird hier also das Bedürfnis nach Partizipation erfüllt. Eine solche Mediennutzung ist aber letztlich parteipolitisch neutral, sie kann auch von linker Seite erfolgen, wie der Bundestags-Wahlkampf etwa von Heidi Reichinnek gezeigt hat.
Studien zum Thema
Studien deuten darauf hin, dass autoritäre und rechtsextreme Einstellungen zunehmend akzeptiert werden. Gleichzeitig lehnt eine absolute Mehrheit rechtsextreme Aussagen weiterhin ab. Die Leipziger Autoritarismus-Studie (LAS) untersucht seit 2002 Einstellungen der Bevölkerung, insbesondere die Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen. Auch die Bertelsmann-Studie belegt die Bewegung hin zu Autokratien. Die repräsentative Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland demokratisch eingestellt und Sorgen wegen des zunehmenden Rechtsextremismus äußert. Gleichzeitig beobachten die Forschenden jedoch in der Mitte der Gesellschaft eine Normalisierung zu bestimmten antidemokratischen und menschenfeindlichen Aussagen.
Wie müsste die kirchliche Kommunikation idealerweise aussehen, um ins Gestalten zu kommen und positive Geschichten zu vermitteln, die auch außerhalb der eigenen „Bubble“ verfangen?
Unsicherheit und Verlustängste trüben die Wertschätzung für unsere Demokratie. Angesichts von Funktionsdefiziten im Bildungs- und Gesundheitsbereich, bei Infrastruktur, Verteidigung und Justiz schwindet das tolle Gefühl, in der besten aller möglichen schlechten Staatsformen zu leben – um Churchill ein wenig umzuschreiben.
Die Kombination aus liberalem Rechtsstaat, pluraler Gesellschaft und sozialer Marktwirtschaft war nach dem Zweiten Weltkrieg und noch nach der Einheit eine riesige zivilisatorische Errungenschaft und ist es noch! Dieses Gefühl, diese Haltung, dass uns der erreichte Wohlstand zu mutigem Handeln befähigt, ist doch für die Kirche anschlussfähig und kann positiv verstärkt werden. Natürlich gibt es große Herausforderungen und die Aufgabe, eine neue westliche Identität zu finden. Aber die Lösungen sind sicher nicht einfach und schon gar nicht national.
Was heißt das konkret: Plädieren Sie also für eine ebenfalls eher affektive, von Emotionen aufgeladene Kommunikation?
Ja und nein. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, weiß die Bibel – aber eben auch nicht ohne Brot. Ein Ausgangspunkt für mich ist die Überwindung der falschen Opposition von Wohlstands-„Bashing“ und Wachstums-Gläubigkeit. Weder ist materieller Besitz per se schlecht noch gut. Die Kirche kann daran mitwirken, dass wir als Gesellschaft neu bestimmen, was es heißt, ein gutes Leben in Freiheit zu führen – und welche Ressourcen wir brauchen, das für viele zu ermöglichen.
Wahrscheinlich kann man auch nicht alle davon überzeugen, dabei mitzumachen, weil sie die Marktwirtschaft ablehnen oder „Ausländer“ hassen. Aber die Mehrheit in Deutschland und Europa steht meinem Eindruck nach zu den Grundwerten des Rechts, des sozialen Dialogs und des Unternehmertums. Dabei geht es nicht allein um Fakten, sondern um eine Lebensform, die auch ein Gefühl ist. Daran müssen wir alle appellieren.
Welche Bilder und positiven Narrative sollten wir als Kirche vermitteln? Welche Symbole können wir nutzen?
Kirche, vor allem eine christlich-evangelische Kirche, hat ja zunächst einmal einen Bonus der Überparteilichkeit. Diese verbindende Funktion lebt in den Gemeinden und ist weiterhin ein extrem wichtiger Anker für unsere Demokratie. Das Bild: der runde Tisch, der offene Saal.
Weiterhin kann die Kirche Verantwortung übernehmen: Zum einen steht sie glaubhaft für die Werte der Mitmenschlichkeit und des Angenommenseins. Und zum anderen zeigt die Kirche, in dem sie an Debatten teilnimmt und sich in Vereinen und zivilgesellschaftlichen Initiativen engagiert, dass sie antwortet auf soziale Herausforderungen. Sie hat eine Stimme und ermöglicht ihren Mitgliedern ebenfalls ihre Stimme zu erheben und mit ihr zu anderen zu sprechen. Das zeigt, dass man für diese Demokratie steht. Das meinte ich oben mit der Lebensform und ihrem Gefühl.
Haben Sie aus Ihrer Arbeit Tipps, um die Plattform-Logiken besser zu verstehen?
Wo hat die Kirche eine Aufgabe, um zum Beispiel Kinder und Jugendliche in den demokratischen Diskurs zurückzuholen?
Prof. Dr. Jörg Metelmann: Wir müssen anerkennen, dass es die polarisierte und emotionalisierte Kommunikation gibt. Was wir tun können, wie in allen Bereichen des Lebens mit Kindern und Jugendlichen, ist Zuhören, Annehmen und Stärken. Wo sind die Unsicherheiten, hinter all dem coolen Getue und Geposte? Und entscheidend: Welche Fragen entstehen daraus im Alltag? Also wie erleben die Kinder und Jugendlichen die Probleme selbst in ihrer Lebenswelt? Und kann man sie ansprechen und motivieren zu überlegen, wie man etwas ändern könnte? Mir scheint diese Verbindung von medialer Wahrnehmung und lebensweltlicher Übersetzung entscheidend, um die Füße auf den Boden der Selbstwirksamkeit zu kriegen und nicht in den Clouds zu schweben. Wenn es für solche Arbeit Mittel gibt, dann würde ich sie in die Begleitung von Kids, Jugendlichen und Eltern stecken.
Tool verändert Feedansicht
Wie sehr die Auswahl der Beiträge in Feeds auf die Einstellung der Nutzer:innen wirkt, zeigt eine Studie der Stanford-Universität. Forschende haben mithilfe einer Browser-Erweiterung die Beiträge auf X neu angeordnet. Beiträge mit feindseligen oder antidemoraktischen Inhalten wurden durch eine KI nach unten verschoben. Der Feldversuch fand vor den Präsidentschaftswahlen 2024 mit 1.256 Teilnehmenden auf X statt. Die Feeds wurden eine Woche lang zufällig unterschiedlich sortiert. Eine Gruppe sah polarisierende Beiträge weiter oben, die andere weiter unten. Die Herabstufung antidemokratischer Inhalte führte bei beiden politischen Lagern zu einer positiveren Sicht auf die jeweils andere Partei. Das Tool kann politische Feindseeligkeit auf X verringern. Mit dem Tool hätten User:innen künftig selbst die Möglichkeit, den Algorithmus der Plattformen zu umgehen und damit Einfluss auf ihr eigenes Leben zu nehmen.
Sehen Sie Alternativen zu den großen US-Tech-Konzernen in Europa, vielleicht auch heranwachsen in Europa?
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann käme ich im Hinblick auf Europa überhaupt nicht in Verlegenheit. Wir brauchen erstens öffentliche europäische Server, so dass die transatlantische Abhängigkeit reduziert und auch im globalen Maßstab die Autonomie des Produktions- und Demokratie-Standortes gewährleistet ist.
Und drittens mag ich die Idee eines Europas der Regionen unter suprastaatlichem EU-Dach, um regionale Wirtschaftskreisläufe und bürgernähere Entscheidungen zu fördern. Wenn ich das alles noch erlebe, wäre ich sehr glücklich – also an die Arbeit!
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