Krisenkommunikation bei sexualisierter Gewalt: Wie gelingt es, dafür eine angemessenen Haltung zu finden und zu zeigen? Christiane Kolb, Referentin für Kommunikation der Stabsstelle Prävention, teilt ihre Überlegungen und Fragen zur Selbstreflexion.
Haltung finden und zeigen
In der Krisenkommunikation stehen Kommunikationsfachkräfte vor der Herausforderung, bei Vorwürfen gegen die eigene Organisation zu reagieren. Christiane Kolb, Referentin für Kommunikation der Stabsstelle Prävention, beschreibt am Beispiel des Themas sexualisierter Gewalt ihre Überlegungen zur Frage: Wie kann es gelingen, dafür eine angemessenen Haltung zu finden und zeigen? Dafür teilt sie Fragen zur Selbstreflexion und Quellen, die helfen, sich dem komplexen Thema Schritt für Schritt anzunähern.
Referentin für Kommunikation der Stabsstelle Prävention - Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche
Christiane Kolb ist erfahrene Magazinjournalistin und hält Masterabschlüsse passend zum Job: einen in Politik- und einen zweiten in Angewandter Sexualwissenschaft. Sie ist darüber hinaus Systemische Beraterin und Autorin der Familienratgeber „Aufklärung von Anfang an. Mit Kindern über Körper, Gefühle und Sexualität sprechen" im Kösel-Verlag und "Queere Kinder" im Beltz-Verlag.
Wie kann eine angemessene Reaktion aussehen?
Bei der Veröffentlichung der ForuM-Studie war Menschen mit Berührungspunkten zum Thema sexualisierte Gewalt klar, dass hier eine tiefgreifende, berechtigte Anklage die evangelische Kirche und Diakonie trifft. Die Liste der Vergehen und Versäumnisse ist ähnlich lang und verheerend wie in der katholischen Kirche.
In diesem Text geht es um den Umgang mit Situationen, in denen Fehler aufgedeckt und öffentlich diskutiert werden gehen. Im Arbeitsbereich der Stabsstelle Prävention sind das sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch und mangelnde Betroffenengerechtigkeit – doch die Frage lässt sich auf viele kritische Themenfelder übertragen.
Die Grundthese hier ist: wer kommuniziert, muss die eigene Haltung zum Geschehenen gut prüfen. Dies ist darum kein Ratgebertext, wie man vermeintlich schlau oder schadlos aus einer Krise kommt. Es ist das Gegenteil. Es geht um ernsthafte Auseinandersetzung mit der Kritik, professionell wie emotional. Denn die These hat einen zweiten Teil: Es ist erst dann eine angemessene Reaktion möglich, wenn die Fehler angenommen werden. Es gilt, den gemachten Fehlern und den Menschen, die geschädigt wurden, innerhalb der eigenen Verantwortung, gerecht zu werden.
Übrigens ist die Frage nach der Haltung im Prinzip für alle wichtig, die im Namen der Organisation kommunizieren – auch für Pastor*innen, Pädagog*innen, Musiker*innen, Menschen im Ehrenamt für Gemeinde, Träger oder Werk. Für die Glaubwürdigkeit von dem, das als „evangelisch“ beschrieben wird, müssen sich alle, die sich evangelisch nennen damit auseinandersetzen.
Über ForuM
ForuM bedeutet „Forschung zu sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland.“ Das Ziel der Studie mit sechs Teilprojekten war eine Gesamtdarstellung des Umgangs mit sexualisierter Gewalt in evangelischen Institutionen von 1946 bis Ende 2021. Auf den Seiten der Forschenden findet man seit der Präsentation der Ergebnisse Ende Januar 2024, den Endbericht sowie eine Zusammenfassung der Studie mit vielen Forderungen an Kirche und Diakonie. Die EKD, die Landeskirchen und Diakonie Deutschland haben die Forschung initiiert. Die Ergebnisse werden seitdem an vielen Stellen diskutiert und finden Eingang in neue Regelungen von Kirchenrecht bis Prävention und Intervention. Unabhängige regionale Aufarbeitungskommissionen befinden sich im Aufbau.
Angemessen ist nur eins: Die Annahme ohne Wenn und Aber
Ganz ehrlich: das Geschehene anzunehmen, ist nichtl leicht. Bei so heftigen Taten und Vorwürfen reagiert nicht nur der Verstand, Gefühle reden mit. Das gilt es einzuberechnen. Beispiel Sexualität: hier reagieren die meisten Menschen (verständlicherweise) mit Abwehr. Es ruft Scham hervor. „Das gehört nicht hierher.“ – „Das ist tabu.“ – „Das ist privat.“ – „So ein Schrecken hier? Das kann ich gar nicht glauben.“
Übrigens ist das zugleich einer der Gründe, warum Taten oft nicht erkannt werden: sie sind kaum vorstellbar. Darum ist es ein zentraler Schritt, ihre Möglichkeit anzuerkennen.
Schnell passiert statt echter Annahme eine Abwehr. Darum sollte man sich hüten vor Relativierung, Historisierung, Distanzierung. Die hören sich so an: „Das ist bei anderen auch so.“ – „Das waren Einzelfälle.“ – „Das war doch früher“. Untersuchungen wie die ForuM-Studie lehren: es gab gibt tausende Taten mit systematischen Parallelen. Taten können weiter geschehen. Die Betroffenen leiden heute an den Folgen. Manche Tag für Tag, oft ein Leben lang.
Fragen für die Selbstreflexion: Kann ich tatsächlich annehmen und verstehen, was wirklich geschehen ist, in voller Tragweite? Erkenne ich Zusammenhänge in der Organisation, die ermöglichenden Faktoren?
Betroffenenorientiertes Denken braucht Nähe zu betroffenen Menschen
Hier hilft vor allem eines: der Perspektivwechsel auf die Seite der Geschädigten. Nur so wird neben den Taten auch deren Wirkung fassbar: der (auch geistliche) Vertrauensbruch, Ausnutzung einer als ideal gedachten Beziehung, die Wirkung des Wegsehens Beistehender, falsche Versprechen, die doppelte Ohnmacht, die es bedeutet, weder Glauben der Tatsachen noch Hilfe zu finden. Nur so kommen wir auch für die Kommunikation zum Verständnis für die berechtigte Wut und heftige Anklage. Sie trifft nun auch alle andern, die für die Täterorganisation steht.
So gelangt man zu einer Haltung der Akzeptanz und Demut. Man merkt schnell, dass hier floskelhafte, abgegriffene Entschuldigungsformeln und schnelle Antworten in Pressemitteilungen oder öffentlichen Beiträgen, so gut sie gemeint sind, unzureichend sind. Es kann nie darum gehen, etwas schnell gutzumachen. Das Ziel muss sein, der Tat und den betroffenen Menschen gerecht zu werden.
Fragen für die Selbstreflexion: Wie kann ich die Taten an mich heranlassen? Wie gelingt es, damit in Berührung zu kommen?
Hinweis: Hier hilft, nicht nur zugespitzte Medienanklagen, sondern vor alle die Berichte von Betroffenen wahrnehmen, Fallberichte, Studien, mit neugieriger Haltung. Auf dem Portal Geschichten die zählen lassen sich Geschichten von Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erfahren haben, nachlesen, zugeordnet nach Hintergrund der Taten. Absender ist die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Geschichten und Gesichter gibt es auf dem Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch. Auf der Seite der Aufarbeitungskommission der Bundesregierung selbst gibt es darüber hinaus Geschichten zum Anhören, denen bekannte deutsche Schauspieler:innen jeweils eine Stimme verleihen.
Mit diesem Wissen kann die Reflexionsarbeit vertieft weitergehen: Was ist angemessenes Verhalten gegenüber Menschen, die Taten erleben mussten und wie antwortet man auf Presseanfragen?
Ende der Verteidigungshaltung
Kommunikation in der Krise führt oft zu dem Reflex, die eigene Organisation verteidigen zu wollen. Doch wir sollten bedenken: auch wenn wir uns persönlich, und die „gute“ Organisation, die sie in vielen Teilen auch ist, vielleicht in Teilen zu zugespitzt angegriffen fühlen – die wahren Geschädigten und Leidtragenden sind andere Menschen. Genau darum ist auch der Reflex falsch, in „Institutions-Wir“ und „die Anklagenden“ zu teilen. Die betroffenen Menschen gehören oder gehörten zum religiösen Wir.
Dennoch ist es richtig und wichtig, sich zwar nicht zu verteidigen, aber die Wertebasis klar zu machen: die Taten entsprechen selbstverständlich nicht den Werten des Glaubens und der Kirche, beziehungsweise in anderen Kontexten den Werten eigenen Organisation.
Fragen für die Selbstreflexion: Die zentrale Frage ist: Wer sind die Geschädigten? Wem (und welchen Tatsachen) muss die Institution gerecht werden? Was ist meine Haltung dazu? Wer ist überhaupt „Wir“?
Hinweis: Hat man Haltungssätze dazu gefunden, etwa zur Akzeptanz von Schuld, der Tatsache, was Gerechtigkeit bedeutet, kann es sinnvoll sein, sie auszuformulieren. Bei Bedarf hängt man sie sich als Leitsatz z. B. an der Pinnwand, um immer wieder an diese Haltung zu erinnern.
"Über Gefühle, Körper, Nähe und Distanz sowie Grenzen ins Gespräch zu kommen, ist für viele herausfordernd. Wenn es aber gelingt, ist es fast immer eine bereichernde Erfahrung."
Christiane Kolb
Beraterin & Autorin
Vom Stand- und Aushalten unter Druck
Es ist eine riesige Aufgabe, in Momenten von Druck mit den eigenen Emotionen hauszuhalten. Denn als Mitglied und Mitarbeitender steigt Enttäuschung, Wut und Aufbegehren auf. Sie sind menschlich, aber kein guter Ratgeber für die Aufgabe, mit der Krise umzugehen.
Statt die Aufregung zu verdrängen, sollte man sich diese Gefühle bewusst machen. Eine realistische Perspektive darauf hilft. Das gelingt im bewussten Austausch mit Kolleg*innen darüber: Was machen die Angriffe mit uns? Wie gelingt uns ein differenzierter Blick darauf? Noch ein Gedanke hilft: Im Moment der Anklage sind wir die Zielscheibe der Wut von Außen – wir persönlich sind aber nicht die Ursache. Dennoch müssen wir die heftigen Vorwürfe annehmen und aushalten.
Fragen für die Selbstreflexion: Welche Emotionen löst die Kritik an meiner Organisation in mir aus? Beeinflussen sie eventuell mein Handeln nicht sachdienlich? Wie gehe ich mit den Gefühlen um? Wie kann ich sie lösen? Welche Rolle ist hier meine?
Das Geschehen einordnen
Einordnung des Geschehens in die gesamtkirchliche oder -organisatorische Verantwortung: Das Ziel der Kritik ist die gesamte Organisation. Betroffene wie Medien unterscheiden oft nicht, für sie ist Kirche ein Monolith. Es ist hier wichtig anzuerkennen: die Außenperspektive ist die einer geschlossenen Organisation, in dem Fall die gesamtreligiöser, evangelischer Verantwortung. Das setzt parochiales Denken („das betrifft uns nicht“) außer Kraft.
Die gleiche Wirkkraft entfaltet es übrigens, wenn lokal Taten geschehen, wenn Aufarbeitung fehlt, wenn weggeschaut wird, statt zu handeln. Fehlt es lokal an Mut für „gerechten“ Umgang, und daraus wird berechtigte, öffentliche Anklage, strahlt das auf alle ab. Die gesamte Kirche, der Glauben haftet. „Die Kirche“ hat es wieder nicht richtig gemacht. Darum muss allen klar sein: die Verantwortung für gerechten Umgang liegt überall. Im Grunde trägt hier jede*r gesamtkirchliche Verantwortung.
Fragenn für die Selbstreflexion: Welche Perspektive über meinen Tellerrand muss ich noch einbeziehen? Was muss ich sehen, über meine lokale Verantwortung hinaus?
Fallverantwortung: Krisenkommunikation und Krisenmanagement
Zuletzt noch ein Wort zur Reaktion: Im Fall der Fälle sind Krisenkommunikation und Krisenmanagement zu trennen. Den Profis der Kommunikation ist klar, dass diese Grenze im Krisenfall leicht verwischt. Weil eine schnelle Reaktionen und drastische Konsequenzen gefordert werden, verschwimmt die Grenze zwischen Krisenkommunikation und Krisenmanagement. Doch die inhaltliche Reaktion, Handeln, Konsequenzen müssen leitende Personen ziehen. Darum gilt es, Kommunikation und Management zu trennen, auch wenn beides Hand in Hand geht. Der Blick muss langfristig sein, Antworten, Aussagen müssen gehalten werden können bei Ankündigungen. Sonst schaden sie mehr, als sie nützen.
Das ist übrigens eine große Lehre aus Erfahrungen mit Verfahren, in denen es um sexualisierte Gewalt geht: Beim Offenbarwerden einer Tat, bei undurchsichtigen Krisen sollte man Ruhe bewahren und ebenso vorsichtig kommunizieren. Was tatsächlich ist oder war, was wer wusste, wer noch involviert war oder ist, das kann sich über Tage, Monate, manchmal Jahre noch ganz anders darstellen. Darum ist es gut, keine (vor)eiligen Schlüsse zu ziehen oder Einschätzungen der Lage zu geben.
Frage für die Selbstreflexion Wie gelingt es, offen zu bleiben bis zur Neutralität und Festlegungen zu vermeiden?
Und was ist mit: Nie wieder?
Eines zum Schluss: Vermeiden Sie es in der Kommunikation, von „Nie wieder“ zu sprechen. Selbstverständlich ist das Ziel, eine größtmögliche Sicherheit vor Taten und Täter*innen zu schaffen. Doch da Täter*innen heimlich vorgehen, lässt sich ein großspuriges „Das passiert nie mehr“ nicht halten. Das gilt für sexualisierte Gewalt generell, in allen Kontexten. Das Ziel ist also: den kirchlichen, evangelischen Raum, wenn man es so nennen möchte, sicherer zu machen.
Sexualisierte Gewalt im Bereich der Nordkirche
Auch in der Nordkirche wurden ab 2010 Taten sexualisierter Gewalt aufgedeckt. Zu besonders gravierenden Tatkomplexen wurde ein umfangreicher, unabhängiger Aufarbeitungsbericht in Auftrag gegeben, der 2014 veröffentlicht wurde. Viele darin enthaltene Empfehlungen sind umgesetzt. Im Jahr 2012 wurde für Betroffene eine Unterstützungsleistungs-, heute Anerkennungskommission ins Leben gerufen. Die Nordkirche hat Präventionsstrukturen aufgebaut, mit zentraler Fach- bzw. Stabsstelle ab 2013 sowie Präventionsbeauftragten in Kirchenkreisen und Hauptbereichen. Ein im Jahr 2018 verabschiedetes Präventionsgesetz gibt Struktur und Inhalt vor. Es gibt Stellen und Stäbe zur Meldung und Beratung von Vorkommnissen. Heute arbeiten über 30 Personen in der Nordkirche für die Prävention sexualisierter Gewalt.
Der Journalist ist seit November 2024 Hauptstadtkorrespondent von RTL/ntv. Zuvor berichtete er für den Südwestrundfunk aus dem ARD-Hauptstadtstudio über die Bundespolitik. Er spezialisierte sich auf ...
Krisenkommunikation bei sexualisierter Gewalt: Wie gelingt es, dafür eine angemessenen Haltung zu finden und zu zeigen? Christiane Kolb, Referentin für Kommunikation der Stabsstelle Prävention, teilt ...